Wie scharf ist das Eszett?

Die s-Schreibung war im vergangenen Jahrzehnt wieder einmal Grund für scharfe Auseinandersetzungen. Erst war sie der am meisten abgelehnte Teil der Orthografiereform, schließlich aber der am schnellsten umgesetzte. Nun bieten die Typografen mit dem Versal-Eszett (vgl. hier auf Federwerk) willkommenen Anlass, alte Missverständnisse noch einmal aufzuwärmen und durch neue zu ergänzen. Dabei könnte es so einfach sein:

1. Das Eszett ist ein Buchstabe. Als Name für den Buchstaben mit den harmonischen Rundungen sind verschiedene Varianten üblich: Eszett wird er nach einer Hypothese zu seiner Entstehung genannt, die ihn als Verschleifung (Ligatur) aus »langem ſ« der Fraktur und »z« deutet. Daneben existieren in der Schülersprache »Rucksack-s« und »Buckel-s«, die sich ebenfalls auf die Buchstabenform beziehen. Wir haben also die Wahl. Dennoch scheint die Bezeichnung »scharfes s« nach wie vor populär, obwohl sie sich aus mehreren Gründen als unscharf bis untauglich erweist.

2. Das Deutsche hat 2 s-Laute. Einen stimmhaften und einen stimmlosen. Den stimmlosen s-Laut nannte/nennt man traditionell auch »scharfes s«. Einen Laut und einen Buchstaben analog zu bezeichnen, ist in den Fällen kein Problem, wo die Beziehungen eindeutig sind (wie bei m, n, l zum Beispiel). Das ist bei den s-Lauten (aus historischen Gründen) nicht so.

3. Den Lauten stehen 3 Varianten in der Schreibung gegenüber: s, ss, ß (»eS«, »Doppel-s« und »Eszett«). Der stimmhafte s-Laut wird stets durch den Buchstaben »s« (sagen, summen, lesen, Gräser) wiedergegeben. So weit, so einfach.

Der stimmlose (»scharfe«) s-Laut, und hier fängt der Ärger an, wird wiedergegeben durch:

a) »s« (das, es, aus, Weste, [bei Auslautverhärtung:] Gras);
b) »ss« (dass, lassen, Fluss, Flüsse, er lässt, bisschen);
c) »ß« (Maß, Gruß, Grüße, außen) nach langem Selbstlaut oder Zwielaut (Diphthong).

Zum Glück ist die s-Schreibung durch Regeln gut erlernbar – wenn man in der Beschreibung nicht Laute und Buchstaben bunt durcheinanderwirft. Und da der »scharfe« s-Laut in der Schreibung verschieden wiedergegeben wird, ist es wenig hilfreich, einen der Buchstaben gleichfalls so zu nennen. (Als Nächstes taucht sonst auch das »doppelt geschärfte s« wieder auf, das Schulgrammatiker im 19. Jahrhundert kannten.)

4. Das Eszett war und ist nicht vom Aussterben bedroht. Nur die Schweiz geht hier bekanntlich einen anderen Weg, das aber bereits seit 1948. Viele Jahre hielt sich die Behauptung, die Rechtschreibreform schaffe das »ß« ab. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass »ß« lediglich in den Fällen nicht mehr geschrieben wird, in denen es mediales »ss« (siehe oben: Fluß, er läßt, ein bißchen) ersetzte. Um nun die lieb gewordene Pose als Verteidiger des Eszett nicht ganz aufgeben zu müssen, wird neuerdings behauptet, die Reform habe dem deutschesten aller Buchstaben »eigentlich« an den Kragen gewollt. Das ist Unfug.

5. Das Versal-Eszett gibt es seit über 100 Jahren. Auch das kleine ß war in Antiqua-Schriften lange nicht in allen Satzschriften und noch länger nicht auf allen Schreibmaschinen vorhanden. Es wurde dann hilfsweise durch Doppel-s wiedergegeben (diese Regel gilt sogar heute noch). Ebenso wurde das große Eszett vereinzelt im Satz verwendet, musste meist aber ersetzt werden, weil ein Zeichen fehlte. Allerdings verfügten selbst einige digitale Schriften längst über ein Versal-Eszett.

6. Der jetzt so euphorisch gefeierte Sieg besteht »nur« in der Festlegung der Codierung des Zeichens in digitalen Schriften. Und wenn es zum Standard gehört, werden in Zukunft vielleicht mehr Schriften ein Versal-Eszett aufweisen. So wie wir das vor Jahren beim Euro-Zeichen erlebt haben, nur taugte das nicht so gut für allerlei Spekulationen.

7. Beim Versal-Eszett geht es um Typografie, also um eine Zeichenform. Es ist nicht mit einer bestimmten Orthografie verbunden und erfordert auch keine neue Reform. Die Bemühungen der Typografen sind älter und unabhängig davon. Es kommt jetzt nur zu so kuriosen Fällen wie diesem Max-Goldt-Cover, bei dem das Versal-Eszett zu einer Demonstration für das Festhalten an der alten Orthografie wird.

Fazit. Wenn der meist kleingeschriebene und seltene Buchstabe schon ins Licht gerückt wird, wäre das eine gute Gelegenheit für die Erkenntnis: Das Eszett ist ein formschöner deutscher Buchstabe und kein bisschen scharf.

Verwandte Artikel:

Marion Kümmel ist Federwerkerin und freie Lektorin. Seit 2001 übernimmt sie Textdienstleistungen für Publikumsverlage, Agenturen, Unternehmen und Autor:innen. Sie redigiert Sachbücher und Fachtexte, wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie Texte aus Unternehmenskommunikation und Werbung. Auf der Website des Lektorats erfahren Sie mehr.

1 Kommentar

Schreiben Sie einen Kommentar:

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert