Die neue alte Rechtschreibung

Auch im Jahr 2007 kommen mir im Lektoratsalltag noch hin und wieder Texte unter die Feder, die in »alter Rechtschreibung« erscheinen sollen. Aber wider Erwarten bleibt auch hier die Entwicklung nicht aus. Es scheint eine »neue alte Rechtschreibung« zu entstehen, die folgenden einfachen Grundsätzen folgt:

Erstens: Das Eszett wird wieder in seine alten Rechte eingesetzt.

Hier funktioniert die Rückkehr zum Alten meist problemlos. Und damit ist das Wichtigste geschafft: Das Eszett gilt als Wahrzeichen der alten Rechtschreibung, zumal sich hartnäckig das Gerücht hält, es wäre durch die Reform abgeschafft worden. Ein wunder Punkt bleibt nur bei daß/dass/das.

Zweitens: Das habe ich schon immer so geschrieben.

Das funktioniert oft, da die meisten Schreibungen ja unverändert blieben. Aber hierher gehören auch solche Schreibungen, die tatsächlich viele schon lange »nach Gefühl« verwendet haben und die erst die Reform schließlich zuließ, z. B.:

Großschreibung von Adjektiven in Redewendungen mit übertragener Bedeutung (alt: sich im klaren sein, alles beim alten lassen, auf dem laufenden bleiben …);
die Großschreibung von bestimmten Pronomen (alt: er war der einzige, der …);
Einzelschreibungen (alt: plazieren, numerieren, der Geheimtip, in bezug auf …).

Der Grundsatz könnte also auch lauten: Wo es dem eigenen Gefühl entspricht, folge der reformierten Schreibung.

Drittens: Im Zweifel ist alte Rechtschreibung das Gegenteil von neuer.

Da die reformierte Rechtschreibung zum Beispiel die Getrenntschreibung von Fügungen aus Verb und Verb (konsequent bis 2006) vorsieht, wird in »neuer alter Rechtschreibung« in diesen Fällen nun stets zusammengeschrieben, auch dort, wo die Schreibung früher Bedeutungsunterschiede verdeutlichte (alt: an der Ampel stehen bleiben, die Uhr ist stehengeblieben).

Es mag gute Gründe für einen Verlag oder Autor geben, bestimmte Texte in alter Rechtschreibung zu publizieren. Die einfachere Lösung ist es längst nicht mehr. Bei neuen Texten kommt erschwerend hinzu, dass die alten Wörterbücher viele Wörter noch nicht enthalten. Der letzte Duden in vorreformierter Rechtschreibung ist immerhin von 1991. Ich bin jedenfalls gespannt, wie sich die »neue alte Rechtschreibung« weiter entwickeln wird.

Marion Kümmel ist Federwerkerin und freie Lektorin. Seit 2001 übernimmt sie Textdienstleistungen für Publikumsverlage, Agenturen, Unternehmen und Autor:innen. Sie redigiert Sachbücher und Fachtexte, wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie Texte aus Unternehmenskommunikation und Werbung. Auf der Website des Lektorats erfahren Sie mehr.

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