Ist die »Tagesschau« verständlich?

Für wen soll/kann die Tagesschau verständlich sein? Für jede(n)? Man kann Zuschauer auch mit übertriebener Schlichtheit und überflüssigen Erklärungen vergraulen. Und politisch wenig Interessierte, die sie nur für die Lottozahlen und den Wetterbericht einschalten, erreicht man auch dann nicht.

Der Spiegel titelt plakativ »Zu viele Fremdwörter. Keiner versteht die ›Tagesschau‹«. Bei digitalfernsehen.de* (inzwischen nicht mehr online) heißt es zutreffender: »Umfrage: Zuschauer verstehen manche Begriffe in ›Tagesschau‹ nicht«.

Beide beziehen sich auf die Ergebnisse des Bielefelder Marktforschungsinstitutes EMNID. Das Institut hat im Auftrage der Programmzeitschrift »TV Digital« 1002 Personen sechs Begriffe aus Sendungen der ARD-Nachrichtensendung vom 1. bis 7. Oktober vorgelegt. Auf digitalfernsehen.de wird das Ergebnis zusammengefasst. Danach

[…] wissen 100 Prozent der Befragten nicht, was Begriffe wie ›Schutzschrift‹ oder ›Vorteilsabschöpfung‹ bedeuten. Auch ›Koalitionsfreiheit‹ (99 Prozent), ›Pflegestützpunkte‹ (98 Prozent) oder ›Basta-Politik‹ (90 Prozent) seien weitgehend unbekannt […]. Beim Begriff ›Tarifautonomie‹ mussten 89 Prozent passen.

Quelle: http://www.digitalfernsehen.de/news/news_235384.html [Abruf: 14.12.2007].

Leider konnte ich nicht ermitteln, wie die 1002 Befragten ausgewählt wurden. Wie viele davon sehen regelmäßig die »Tagesschau«? Und sicher ist es auch ein Unterschied, ob die Begriffe im Textzusammenhang auftreten oder wie in der Befragung einzeln erklärt werden sollen. Für eine repräsentative Auswahl wäre das Ergebnis aber in jedem Falle besorgniserregend.

Sollte man das Verständnis von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie nicht als Teil der politischen Allgemeinbildung voraussetzen können? Sollte Basta-Politik nicht jedem politisch Interessierten geläufig sein, der in den letzten Jahren in der Bundesrepublik gelebt hat? Der Pflegestützpunkt ist vielleicht noch zu neu, aber dass ihn 98 Prozent der Befragten nicht kannten …

Nur bei den verbliebenen 2 Kandidaten würde ich den Schwarzen Peter an die Redakteure geben: Schutzschrift halte ich für einen erklärungsbedürftigen Fachbegriff. Die Vorteilsabschöpfung dagegen ist einer jener Unwort-Kandidaten, die eine um Sachlichkeit bemühte Sendung ersetzen sollte.

Fazit: Verständliche Textgestaltung kann nie Verständlichkeit für alle heißen, im besten Falle wird eine große Zielgruppe erreicht.

Marion Kümmel ist Federwerkerin und freie Lektorin. Seit 2001 übernimmt sie Textdienstleistungen für Publikumsverlage, Agenturen, Unternehmen und Autor:innen. Sie redigiert Sachbücher und Fachtexte, wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie Texte aus Unternehmenskommunikation und Werbung. Auf der Website des Lektorats erfahren Sie mehr.

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