Der Sprachverfall fällt aus

Der Verfall der deutschen Sprache wird mindestens seit der Romantik befürchtet, als man sie dem Greisenalter nahe sah. Nicht zuletzt deshalb haben die Brüder Grimm Zeugnisse älterer Sprachstufen gesammelt. Und wie steht es heute um das Deutsche? Ständig kommen neue Wörter mit Migrationshintergrund hinzu, in SMS grassiert der Aküfi, ins Internet schreibt auch jeder, wie er will …

Prof. Rudi Keller, Germanist an der Uni Düsseldorf, sagt dazu im Interview mit der Süddeutschen Zeitung:

Seit 2000 Jahren ist literarisch belegt, dass Menschen sich über den Sprachverfall Gedanken machen. Und doch hat noch kein Mensch jemals eine verfallene Sprache vorführen können – so etwas scheint es nicht zu geben. […] Meine generelle These ist, dass das, was Menschen aus ihrem begrenzten Blickfeld heraus als Sprachverfall wahrnehmen, im Wesentlichen nichts anderes ist als der ganz normale Sprachwandel.

Quelle: http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/966/182400/5/ (nicht mehr online)

Die Sorge um den Sprachverfall ist also doppelt so alt wie die deutsche Sprache selbst. Bisher hat vielfältiger Gebrauch sie immer wieder flexibel den Bedürfnissen ihrer Nutzer angepasst. Stellen Sie sich vor, wir wollten in der Sprache Goethes das Funktionieren eines Blogs oder die Bedienung eines Geldautomaten erklären.

Die Sprache als Ganzes nimmt dabei auch dann keinen Schaden, wenn nicht jeder einzelne Sprecher oder Schreiber sie auf höchstem Niveau benutzt. Auch zur Goethezeit überwogen jede Menge gesprochene und geschriebene Alltagstexte und empfindsame Romane, nicht die sprachliche Hochkultur. Und nur etwa jede/r dritte Deutsche konnte lesen und schreiben.

Selbst eine Sprache, der die Sprecher und Schreiber ausgingen, würde nicht verfallen, sondern aussterben (vgl. Nachruf auf eine Sprache). Gelänge es den Nörglern und Aktionisten, die Sprache in einem bestimmten Zustand zu konservieren, verkäme sie auf Dauer zum folkloristischen Spielzeug. Aber auch dafür gibt es keinen Beleg. Denn wer will schon mit einem Geh-Kaffee zu »Beischlaf und die Großstadt« ins Lichtspielhaus gehen, um später darüber zu netzplaudern.


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Marion Kümmel ist Federwerkerin und freie Lektorin. Seit 2001 übernimmt sie Textdienstleistungen für Publikumsverlage, Agenturen, Unternehmen und Autor:innen. Sie redigiert Sachbücher und Fachtexte, wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie Texte aus Unternehmenskommunikation und Werbung. Auf der Website des Lektorats erfahren Sie mehr.

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